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Neue Verordnungsmöglichkeiten für Lipidsenker: Was bedeutet die 10-Prozent-Schwelle für die Praxis?

Der G-BA senkt die kardiovaskuläre Risikoschwelle für die Verordnung lipidsenkender Therapien auf 10 Prozent in 10 Jahren. Die Entscheidung basiert auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und hat zum Ziel, kardiovaskuläre Risiko-Patient:innen frühzeitiger behandeln zu können.


Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat die Verordnungsmöglichkeiten für Lipidsenker kürzlich überarbeitet, um den Zugang zu wirksamen lipidsenkenden Therapien (LLT) zu erleichtern und die Wirtschaftlichkeit zu verbessern.1,2 Der Beschluss vom 19. Dezember 2024 ist am 12. Februar 2025 in Kraft getreten. Das Bundesministerium für Gesundheit hatte dem Beschluss bereits im Januar 2025 zugestimmt.2

Absenkung der Risikoschwelle für die Primärprävention

Eine wesentliche Änderung in den Verordnungskriterien betrifft die Anpassung der Risikoschwelle für eine LLT zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Während bislang eine Verordnung erst bei einem kalkulierten Risiko von 20 % für ein kardiovaskuläres Ereignis innerhalb der nächsten zehn Jahre möglich war, wurde diese Schwelle nun auf 10 % abgesenkt. Damit erhalten mehr Patient:innen frühzeitig Zugang zu einer LLT.

Die Risikostratifizierung erfolgt in der klinischen Praxis auf Basis von Risikokalkulatoren. Besonders relevant ist der SCORE2, der von der ESC entwickelt wurde und in die aktuelle europäische Leitlinienempfehlung integriert ist. Dieser berücksichtigt zentrale kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht, Raucherstatus, systolischen Blutdruck sowie den non-HDL-Ausgangswert und ermöglicht eine quantitative Einschätzung des individuellen Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse bei Patient:innen ohne bestehende kardiovaskuläre Erkrankungen.3 Daneben sind in Deutschland auch Risikorechner wie der PROCAM-Score oder der ARRIBA-Rechner gebräuchlich.

SCORE2

Im Jahr 2021 hat die ESC mit SCORE2 und SCORE2-OP aktualisierte Algorithmen zur Einschätzung des individuellen 10-Jahres-Risikos für tödliche und nicht-tödliche kardiovaskuläre Ereignisse eingeführt.3

 

SCORE2 – für Erwachsene zwischen 40 und 69 Jahren

  • Berücksichtigt Alter, Geschlecht, Blutdruck, Non-HDL-Cholesterin und Raucherstatus
  • Länder- und altersangepasste Risikoeinschätzung

SCORE2-OP – für Erwachsene ab 70 Jahren

  • Wie SCORE2, jedoch speziell adaptiert für ältere Personen, die aufgrund physiologischer Veränderungen und Multimorbidität ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko aufweisen.

 

Wichtige Vorteile:

  • bildet das Risiko tödlicher und nicht-tödlicher kardiovaskulärer Ereignisse ab
  • quantitative Risikostratifizierung bei Patient:innen ohne kardiovaskulären Erkrankungen
  • Grundlage für Therapieentscheidungen, z. B. zur frühen Einleitung einer Lipidtherapie

Digitale Tools wie der ESC-SCORE2-Rechner vom Bundesverband niedergelassener Kardiologen (BNK) unterstützen die quantitative Risikoberechnung im Praxisalltag.4

Erweiterung der Indikationsbereiche

Neben der quantitativen Risikobewertung definiert der aktuelle G-BA-Beschluss spezifische Patientengruppen, bei denen unabhängig von der Risikoeinstufung mit Hilfe von Risikofaktoren ein hohes kardiovaskuläres Risiko per se angenommen wird. Dies betrifft insbesondere Personen mit Diabetes mellitus Typ 1 und begleitender Mikroalbuminurie sowie Patient:innen mit familiärer Hypercholesterinämie. Darüber hinaus berücksichtigt der G-BA in seinem Beschluss, dass bei Patient:innen unterhalb der quantitativen 10 %-Schwelle ein hohes kardiovaskuläres Risiko vorliegt, wenn sie an bestimmten risikoverstärkenden Erkrankungen leiden. Dazu zählen beispielsweise bestimmte Autoimmunerkrankungen (z. B. Lupus erythematodes), eine HIV-Infektion sowie schwere psychische Erkrankungen wie Schizophrenie, bipolare Störungen und Psychosen.  

Therapieansätze: Früher beginnen, gezielter kombinieren

Die Anpassung der Risikoschwelle lenkt den Blick auf eine zentrale Erkenntnis der kardiovaskulären Forschung: Eine konsequente Lipidsenkung reduziert das Risiko für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse deutlich.5 Dabei zeigen Studien, dass der frühzeitige Einsatz von Kombinationstherapien schneller zu den angestrebten LDL-C-Zielwerten führt und langfristig kosteneffizienter ist als die schrittweise Eskalation der LLT.6-8

Gemäß der aktuellen ESC-Leitlinie zu Dyslipidämien liegen die LDL-C-Zielwerte für Patient:innen mit hohem bzw. sehr hohem kardiovaskulärem Risiko bei < 70 mg/dl (< 1,8 mmol/l) bzw. < 55 mg/dl (< 1,4 mmol/l).9 Eine frühzeitige Kombination lipidsenkender Wirkstoffe erhöht die Wahrscheinlichkeit, diese Zielwerte schnell und dauerhaft zu erreichen.6,10 Gleichzeitig verbessert sie die kardiovaskuläre Prognose6,7 und ist zudem wirtschaftlicher als eine Eskalation der LLT in kleinen Schritten.8

Dabei ist der ACL-Hemmer als orales Add-on zu Statinen und Cholesterinresorptionshemmer von besonderer Relevanz. Bereits 2022 wurden ACL-Hemmer vom G-BA als zweckmäßig und wirtschaftlich anerkannt.11 Klinische Studien belegen nicht nur eine signifikante LDL-C-Senkung, sondern auch eine Reduktion des Risikos schwerwiegender kardiovaskulärer Erst- und Folgeereignisse.12

Fazit: Präzisere Prävention durch differenzierte Risikobewertung

Durch die neuen Verordnungsmöglichkeiten rückt der frühzeitige Einsatz lipidsenkender Kombinationstherapien stärker in den Fokus. Die Anpassung unterstützt Ärzt:innen dabei, frühzeitig mit individuell auf die Patient:innen abgestimmten lipidsenkenden Kombinationstherapien zu beginnen und somit die kardiovaskuläre Prognose ihrer Patient:innen nachhaltig zu verbessern.


Literatur:

1. Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA), Pressemitteilung vom 19.12.2024: G-BA erweitert die Verordnungsmöglichkeit von Lipidsenkern, wenn alleinige Primärprävention hohe kardiovaskuläre Risiken nicht ausreichend senkt. Online unter: https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/1229/ (Letzter Aufruf: Februar 2025)
2. Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA), Arzneimittel-Richtlinie/Anlage III: Nr. 35 (Lipidsenker). Online unter: https://www.g-ba.de/beschluesse/6970/ (Letzter Aufruf: Februar 2025)
3. SCORE2 working group and ESC Cardiovascular risk collaboration. Eur Heart J 2021; 42(25):2439-54
4. Bundesverband Niedergelassener Kardiologen (BNK): BNK Scores, Infarkt, SCORE 2 Rechner. Online unter: http://www.scores.bnk.de/score2--2021-.html (Letzter Aufruf: Februar 2025)
5. Cholesterol Treatment Trialists Collaboration (CTTC). Lancet 2010; 376:1670-81
6. Makhmudova U et al. Clin Res Cardiol 2023; 112(9):1212-9
7. Schubert J et al. Eur Heart J 2024; 45(39):4204-15
8. Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) (2024). Pressemitteilung: "Jena auf Ziel" - Kosteneffektivität der intensiven LDL-C-Senkung nach STEMI. Verfügbar unter: https://herzmedizin.de/meta/presse/dgk-jahrestagung/2024/Eine-intensive-LDL-C-Senkung-ist-bei-Patient-innen-nach-ST-Hebungsinfarkt-kosteneffektiv--Daten-der-zweijaehrigen-Nachverfolgung-von-Jena-auf-Ziel.html (letzter Aufruf Februar 2025)
9. Mach F et al. Eur Heart J 2020; 41(1):111–88
10. Ray KK et al. Eur J Prev Cardiol 2024; zwae199
11. AM-RL Anlage III Nr. 35 Lipidsenker. Aktueller Stand. Verfügbar unter: www.g-ba.de/richtlinien/3/ (Letzter Aufruf: Februar 2025)
12. Nissen SE et al. N Engl J Med 2023; 388(15):1353-64

Bildnachweis: NanoStockk / iStock 1475809961


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